Italien

Schieflage

Jedes Frühstück beginnt mit einem Ritual. Kerstin löst die Kompresse, badet ihren kleinen rechten Finger in einer Salzlösung, trägt eine antibiotische Flüssigkeit auf, dann kommt eine Gaze drum und die neue Kompresse. Eigentlich ist der tägliche Verbandswechsel der Job einer Arzthelferin. Kerstin musste zwei Tage vor der Tour überraschend am Finger operiert werden. Unsere Reise stand auf der Kippe: Die Frage lautete: professionelle Nachbehandlung in der chirurgischen Praxis oder Selfmade-Therapie auf italienischen Campingplätzen? Kerstin will reisen. Das Risiko geht auf. In Pisa ist die Wunde zum ersten Mal trocken. Die antibiotische Flüssigkeit ist nun überflüssig.

 

Auf zum schiefen Turm. Jeder Mensch aus der westlichen Welt kennt dieses Bild. Und dennoch trifft uns der erste Anblick mit voller Wucht. Das romanische Tuffstein-Ensemble mit Rundkapelle, Basilika und Glockenturm strahlt in der Sonne. Als dieser Dom im 13. Jahrhundert vollendet wurde, setzte er einen weltweiten Maßstab für christliche Architektur. Das Bild brennt sich in das Gedächtnis ein. Eine Erinnerung für Leben.

 

Anschließend erkunden Kerstin und Markus die Stadt mit dem Rad, Julia und Georg zu Fuß. Pisa ist kleiner als gedacht, schon nach einer Stunde treffen wir uns zufällig wieder. Bei einer Flasche Pino Grigio auf einem barocken Platz in der toskanischen Sonne planen wir das Abendessen. Steak oder Nudeln oder Restaurant?

 

Kerstin und Markus starten mit dem Rad zur Restaurant-Suche ins Umland. Vielleicht lässt sich vor den Toren der Stadt eine Osteria finden. Doch wir kommen nur bis zur ersten Kreuzung. Beim Überqueren der Straße will Markus einer Familie ausweichen, rutscht mit dem Vorderrad im Sand weg, verreißt den Lenker und geht auf einem grob geteerten Radweg zu Boden. Mit blutendem Schienbein, aufgeschlagenem Ellenbogen, zerfetzter Hose, Rissen im Hemd und lädiertem Rad geht’s zurück zum Platz. Wo war gleich die antibiotische Flüssigkeit?

 

Die Entscheidung fürs Abendessen ist damit gefallen. Es gibt Nudeln. Parallel läuft an diesem Abend ist das entscheidende Relegationsspiel zwischen Hertha BSC Berlin und Fortuna Düsseldorf. Wieder ein Spiel, das Geschichte schreiben wird. Georg und Markus bleibt erneut nur der Ergebnisdienst auf dem Smartphone. Kein Fußball. Ob unsere Frauen nachfühlen können, wie selbstlos wir sind. Wie opferbereit für einen schönen gemeinsamen Urlaub? Vermutlich nicht.

 

Der Tag hat noch seine gute Seite. Georg und Markus bauen im Innern des Campers das Frischwassersystem auseinander. Georg fingert den Gardena-Aufsatz aus der Zuleitung. Wir können wieder Frischwasser tanken. Und für den Rest der Reise haben wir ein witziges Souvenir. Für das Markisenproblem wissen unsere Stellplatznachbarn in Pisa aber auch keine Lösung. Vielleicht finden wir ja am nächsten Tag in Florenz einen Wohnmobil-Markisen-Experten.

 

Weiter zu "Filmriss"