USA

Groß, größer, Grand Canyon

Es ist früher Morgen unseres dritten Tages im Nationalpark Grand Canyon. Wie zwei Mumien liegen wir nebeneinander. Ganz langsam wachen wir auf.

„Kannst du deine Beine bewegen?“

„Na ja, jedenfalls besser als gestern Abend. Und Du?“

„Soweit okay. Aber mein linker Fuß schmerzt noch.“

Wir sind ausgelaugt und wie benommen. Aber auch stolz. Was ist passiert? Am Tag zuvor haben wir die gefährlichste und auch unvernünftigste Trekkingtour unternommen, die einem im Nationalpark Grand Canyon so einfallen kann: An nur einem Tag sind wir von der oberen Kante bis runter zum Colorado River marschiert – und wieder hoch. Dabei haben wir eine Distanz von mehr als 30 Kilometern und 3.000 Höhenmetern überwunden. Ein Höllenmarsch. Doch der Reihe nach.

 

Eine ambitionierte Tour haben wir uns vorgenommen. Dafür erwischen wir einen guten Tag: Es ist bewölkt, die Sonne verschont uns, aber das Thermometer zeigt trotzdem 30 Grad. Wir stehen oben an der südlichen Kante. Obwohl wir die Szenerie inzwischen kennen, raubt uns die Ansicht auf den Grand Canyon wieder den Atem. Unmittelbar vor unseren Füßen hört die Welt einfach auf. Mehrere Kilometer geht es steil bergab. Die nördliche Kante ist 34 Kilometer entfernt. Dazwischen liegt der Canyon mit einer schier unvorstellbaren Größe und Weite. Das natürliche Blickfeld reicht nicht, alles zu erfassen. Wie weit können Augen sehen? Es ist gigantisch. Irgendwo da unten frisst sich der stattliche Colorado River immer tiefer in das Gestein. Doch der Fluss ist von oben nicht auszumachen, so tief und weit ist es. Wer dachte, die Welten aus Tolkiens „Herr der Ringe“ seien der Phantasie entsprungen, irrt. Hier ist es real. Und doch fällt es schwer, das Bild im Kopf einzuordnen, fassbar zu machen.

 

Wir starten an der Kante des Trekkingwegs South Kaibab in diese Unterwelt. Der Rucksack ist gepackt mit sieben Litern Wasser und mineralischen Getränken, Nüssen und Broten. Noch ahnen wir nicht, wie wichtig die Verpflegung für uns sein wird. Los geht’s. Mit großen Schritten stapfen wir steil bergab. Der Untergrund ist uneben, mal sandig, mal steinig. Viele andere Besucher sind mit uns unterwegs. An der Ausrüstung erkennen wir, dass viele nur eine kleine Tour machen, sich das Gefühl holen wollen, im Canyon gewesen zu sein oder einfach hinter der nächsten Biegung eine andere Sicht auf das unglaubliche Prospekt erhaschen wollen.

 

Je weiter wir gehen, desto weniger Leute werden es. Nach einer Stunde erreichen wir ein Plateau mit grandioser Aussicht. Ein beliebtes Ziel für eine Tagestour. Hier ruhen sich die Wanderer aus, lassen das Prospekt auf sich wirken, kehren schließlich um und wandern in der doppelten Zeit zurück zur oberen Kante.

 

Der Nationalpark hat auf diesem Plateau einen Ranger postiert, der die Besucher anspricht. Auch von uns will er wissen, was wir vorhaben. Als wir erklären, dass wir runter zum Fluss und wieder ’rauf wollen, merken wir, dass er uns von der Idee abbringen möchte. Er weist uns auf die Gefahren hin, empfiehlt uns eine Abkürzung und fragt: „Habt ihr eine Taschenlampe dabei?“ Eine Taschenlampe? Es ist doch noch Vormittag. Letztlich gibt er der Zentrale per Funk eine Beschreibung von uns und unserer Kleidung durch.

 

Wir drehen also nicht um, sondern sind in diesem Zeitraum die einzigen, die das Plateau in Richtung Colorado River verlassen. Nach allen Warnungen, die wir vom Ranger, von Schildern, aus der Parkzeitung oder aus dem Internet gehört haben, scheint es, als gingen wir durch ein Tor in eine gefährliche, unwirkliche Abenteuerwelt.

 

Weitere zweieinhalb Stunden geht es nun steil bergab. Ein- oder zweimal überholen wir andere Wanderer oder werden selber überholt. Ansonsten haben wir den Grand Canyon ganz allein für uns. Totale Stille, wir hören nur unsere Schritte, unsere Worte. Irgendwann sind wir nur noch Ameisen, die durch ein Universum aus Stein krabbeln. Immer sehen wir andere Felsformationen. Das Gestein changiert von rot auf braun, schwarz, graphit, dann wieder rot. Und doch bleibt alles ähnlich. Wir sind gefangen zwischen Abhängen und Felswänden. Keine Wahl, kein Ausweg.

 

Und es scheint, als kämen wir nicht voran. Stunde um Stunde marschieren wir, und nichts ändert sich. Wir bekommen Respekt für unsere Tour und erinnern uns, dass der Ranger uns eine Abkürzung empfohlen hat. Aber wo ist das Hinweisschild, der Abzweig eine Gabelung? Wir sehen nichts. Wir haben keine Ahnung, ob und wann eine Wasserstelle kommt, wie viel wir schon gelaufen sind und vor allem: Wie viel wir noch laufen müssen. Das ist wieder Amerika: In jedem Motel ist ein Schild, dass man nicht mit dem Fön in die Badewanne steigen soll. Und hier, in der Steinwüste bist du Dir selber überlassen.

 

Dazu kommt, dass die Füße und Knie müde werden, da sie den gesamten Körper bei jedem Schritt nach unten abzustützen und auf dem unebenen Boden ausbalancieren. Und es ist gefährlich. Wer sich vertritt, träumt oder stolpert, taumelt dem Abgrund entgegen, der oft nur eine Armlänge entfernt ist.

 

Neuen Schwung bekommt unsere Tour, als wir uns dem Colorado River nähern. Erst ist ein kleiner Abschnitt zu sehen, dann immer mehr und schließlich erreichen wir den Fluss.

 

Es ist ein erhabenes Gefühl, am Fluss zu stehen und die Strömung zu hören. Nur die allerwenigsten Menschen erreichen je diesen tiefen Punkt. Wir gehören nun dazu. Wir fühlen uns wie Forscher des 19. Jahrhunderts, die der Welt später die Entdeckung eines geheimen, versteckten Flusses mitteilen werden. Die Momente, allein mit dem Colorado River zu sein, genießen wir.

 

Und wir ruhen uns aus, denn vom bisherigen Weg sind wir wirklich erschöpft. Doch das Schlimmste steht uns noch bevor: der Weg wieder hoch. Während bei einer Bergtour die Spitze erklommen wird und es dann vergleichsweise entspannt wieder nach unten geht, ist es hier umgedreht: Wir sind schon erschöpft und müssen nun den gesamten Weg wieder hoch!

 

Da wir für den Aufstieg einen anderen Weg gehen wollen, begleiten wir den Colorado erst zwei Kilometer stromabwärts, bevor wir auf den Bright Angel Trail abbiegen. Von nun an geht es nur noch bergauf, tausende und abertausender Schritte. Das erste Stück bietet eine überraschende Abwechselung. Ein Bachlauf windet sich aus dem Canyon und mündet im Colorado. Das Ufer ist dicht mit Pflanzen bewachsen, immer wieder müssen wir den Bach überqueren. Es st grün, eine Farbe, die wir fast schon vergessen hatten. Wasser, Pflanzen und Hitze sorgen für eine hohe Luftfeuchtigkeit, die Kerstins Kreislauf auf den Plan ruft. Fürs erste verlangsamen wir das Tempo.  

 

Dann nehmen wir wieder Fahrt auf. Von der Karte wissen wir, dass irgendwann der Indian Garden kommen wird, die einzige Station mit Trinkwasser. Von unseren Vorräten trinken wir nun etwas großzügiger, da wir die Flaschen bald wieder auffüllen können. Dennoch bleibt Durst unser ständiger Begleiter.

 

Schließlich erreichen wir den Indian Garden. Wir packen unser Essen aus und haben sofort Besuch. Eine Art Streifenhörnchen ohne Streifen interessiert sich besonders für die Cashewkerne. Zwei Nüsse fallen auf den Boden und werden gleich weggeknabbert. Das Tier will mehr und krabbelt auf Markus Schoß. Als immer noch nichts kommt, hackt es in Markus Finger.

 

Wir füllen unsere Flaschen und starten zur großen Schlussetappe. Der Rucksack wiegt nun wieder zehn Kilo. Mittlerweile spürt Markus jede Stelle, an der sein Rucksack den Körper berührt.

 

Und er spüre jeden Schritt. Die Erschöpfung kriecht immer tiefer in den Körper. Vorne von der Hutkrempe tropft der Schweiß runter. Plop, plop. Die nächste Serpentine. Der Rucksack schneidet. Jeder Schritt schmerzt. Immer wieder der Blick nach oben zur Kante. Sie kommt nicht näher. Plop, plop. Die nächste Serpentine. Irgendwann muss das doch ’mal aufhören. Plop, plop… Wir gehen und gehen, doch wir kommen nicht voran und es scheint, als gingen wir in einem Kaufhaus die Rolltreppe die falsche Richtung ’rauf. Die Worte des Rangers kommen uns wieder in den Sinn. „Habt Ihr eine Taschenlampe dabei?“. Szenarien spinnen sich im Kopf zusammen, wie wir allein und hilflos im Grand Canyon wahlweise verhungern oder verdursten, weil uns kein Mensch findet. Dann andere Gedanken: Wie wäre es, jetzt vom Drei-Meter-Brett in ein Schwimmbecken zu springen?

 

Kerstin ist relativ frisch, macht weiter Fotos von der Landschaft. Sie versucht, Markus zu motivieren. Die Landschaft, die ganzen blöden Steine, interessieren ihn nun überhaupt nicht mehr. Wie ein Roboter stapft er Schritt für Schritt nach oben. Man stelle sich vor, fünf Stunden lang die Treppen des Eifelturms nach oben gehen zu müssen. Genau so etwas machen wir hier. Durst, trinken, sich kurz hinsetzen. Dann wieder auf und weiter. Nach zehn Metern meldet sich der Durst wieder. Wie schön wäre es jetzt, sich wieder hinzusetzen. Der Körper ist leer. Aber nein, reiß dich zusammen, sonst kommen wir nie an. Dazu muss man wissen, dass das Trinkwasser aus den Leitungen in den USA stark nach Chlor schmeckt. Im Verlauf dieser Tour hat Markus circa sieben Liter Chlorwasser getrunken. Die restlichen zweieinhalb Wochen unserer USA-Reise rührt er davon keinen Schluck mehr an. Auch heute könnte er es noch nicht.

 

Am Weg begegnen uns Menschen, die nur drei Kilometer weit runter gegangen sind und nun mit Tränen im Gesicht am Wegesrand sitzen. Sie schaffen es nicht mehr hoch, die Füße in ihren Alltagsschuhen sind wund gelaufen. Wieder andere müssen zusätzlich ihre Kinder hochtragen, weil sie keinen Schritt mehr gehen und vor Erschöpfung im Arm schlafen.

 

Die Sonne geht langsam unter. Aber unser Ziel, die obere Kante des Bright Angel Trail, zeichnet sich langsam ab. Wir haben es bald geschafft. Und tatsächlich, völlig ausgepumpt kommen wir oben an. In diesem Moment sind wir einfach nur froh und glücklich. Wir steigen in den Shuttle-Bus. Inmitten der anderen Touristen, die fürs Abendessen geduscht sind und gut riechen, fühlen wir uns wie Aliens, die aus einer anderen Welt an die Oberfläche gekrochen sind.

 

Mit der Ankunft an unserem Stellplatz sind die Strapazen noch nicht ganz vorbei. Eine Eigenart der Campingplätze in den US-Nationalparks ist, dass es keine Duschen gibt. So marschieren wir weitere anderthalb Kilometer zu den Duschen, die es wenigstens vor dem Platz gibt. Und einkaufen gehen wir auch noch. Schließlich verlangt der ausgezehrte Körper dringend nach neuer Energie in Form von Grillfleisch.

 

Im Nachhinein war das eine wichtige Erfahrung von Entbehrung und dem Umgang mit Risiken. Zu den besten Ideen des Lebens gehört, dass Markus sich unmittelbar vor der Reise neue und wirklich gute Wanderstiefel gekauft hat. Und einen neuen Trekking-Rucksack haben wir uns zugelegt. Neben der guten Ausrüstung hatten wir ausreichend Essen und Trinken, sind trainiert und vernünftige Ausrüstung. Hätte nur eines der drei Teile nicht gestimmt, wissen wir nicht, wie es ausgegangen wäre.

 

Wir wussten im Wesentlichen, worauf wir uns einlassen. Bereits bei Flagstaff sind wir in den Walnut-Canyon gewandert und haben und alte Höhlen der Indianer angesehen. Im Vergleich zum Grand Canyon war das eine Miniatur-Ausgabe, doch wir haben ein Gefühl für die Steigungen bekommen. Und am ersten Tag im Grand Canyon sind wir knapp dreieinhalb Stunden den südlichsten Weg hinabgestiegen und im straffen Tempo bei gleißender Sonne wieder nach oben gegangen. Oben angekommen, waren wir fix und foxi.

 

Zur Standardausrüstung der amerikanischen Nationalpark-Besucher gehören übrigens Flip Flops. Mit Bussen werden die einzelnen Aussichtspunkte an der oberen Kante angefahren. Auch wenn der nächste Punkt nur 50 Meter entfernt ist, wird trotzdem der Bus genommen.

 

Als wir am Morgen des dritten Tages im Grand Canyon in unserem SUV langsam aufwachen und in unsere Körper hinhorchen, machen wir uns anschließend bereit zur Weiterfahrt. Alles irgendwie in Zeitlupe. Inzwischen sind wir aber stolz, das geschafft zu haben. Wir verlassen den Grand Canyon mit intensiven Eindrücken, die wir unser Leben lang nicht vergessen werden.  

 

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