USA

Rialtobrücke mal anders

Wir waren knapp eine Woche in der Wildnis. Am Abend zuvor haben wir mangels Dusche noch rasch im Fluss gebadet und die Haare im Spülbecken für Geschirr gewaschen. Die Haare sind strohig. Unser Klamotten-Style ist ein Mix aus Camping und Second Hand. Hoffentlich riechen wir nicht wie Tiere. So betreten wir die opulent mit Fresken und goldenen Deckenbildern ausgeschmückte Lobby des 5 Sterne-Hotels „The Venetian“ in der Glitzerwelt Las Vegas. Wir sind zurück in der Zivilisation. Und in was für einer!

 

Las Vegas gehört zu dem Typ Großstadt, von der jeder Mensch sein persönliches Bild hat. Uns geht es nicht anders. Soviel schon gehört, gelesen, gesehen. Und dennoch: Als wir ankommen und die Stadt erstmals direkt auf uns wirkt, verschlägt es uns die Sprache.  

 

Vom Venetian heißt es, es sei das größte Hotel der Welt. Quasi um das zu beweisen, verlaufen wir uns auf dem Weg zu unserem Zimmer gleich zwei Mal. Warum unser Hotel mit dem Namen „The Venetian“ einen Bezug auf Venedig nimmt, hatte mich vorher nicht interessiert. Dann fahren wir mit dem Fahrstuhl nach unten. Allein im Hotel gibt es knapp 300 Geschäfte. Mir fällt auf, dass die Fassaden durchgehend im Barock-Stil gestaltet sind. „Haben wir das nicht schon einmal gesehen?“ Wir biegen um die Ecke – und stehen auf dem Markusplatz von Venedig. Ich kann erst es nicht fassen, doch es trifft mit wie ein Schlag: Die haben tatsächlich den gesamten Canale Grande nachgebaut.

 

Damit nicht genug: Der Tagesablauf vom Sonnenaufgang bis zur dunklen Nacht mit Laternen auf den Plätzen wird einmal je Stunde simuliert. Doch ein Bauwerk setzt allem die Krone auf. Was jetzt hier im folgenden beschrieben wird, ist nicht erfunden: Für den Zugang zum Hotel wurde die Rialtobrücke fast maßstabsgetreu nachgebildet. Nun ist es keinem Vegas-Touristen und schon gar keinem Amerikaner zuzumuten, eine Brücke zu Fuß zu überqueren. Also wurde die Rialtobrücke mit Rolltreppen ausgestattet. Wer von der Seite auf die Brücke schaut, sieht Menschen, die scheinbar bewegungslos noch oben oder unten über den Boden schweben. Die Rialto-Rolltreppe fungiert als Fließband in die Geisterbahn des Abendlands. Rechts und links kreischen die Säulen der Weltkultur als gruselige Prostituierte.

 

Während wir diese Eindrücke noch verarbeiten, streifen wir in den anderen Mega-Hotels bereits durch Rom, Paris oder einer arabischen Phantasiestadt aus 1001-Nacht Die bleibt uns in Erinnerung, weil sich die Leute unter blauem Neonlicht im Schaufender tätowieren lassen.

 

Auf Schritt und Tritt begleiten uns die immer wieder gleichen Geräusche. Ringeding. Büdeledüt. Diese massierte Präsenz von Spielhallen und tausender Spielautomaten ist nicht zu fassen. Jede noch so kleine Frittenbude hat ihre angeschlossene Spielhalle. Oder anders gesagt: Das gesamte Erdgeschoß dieser Stadt ist eine einzige Spielhalle. Flächen von der Größe eines Fußballfelds stehen voll mit Spieltischen und einarmigen Banditen.

 

Natürlich versuchen wir am Abend unser Glück. Zuerst stopfen wir unsere überschüssigen Münzen in einen Automaten. Ohne Erfolg. Wir wollen Roulette spielen und setzen uns ein Limit in Höhe von 100 Dollar. Als wir feststellen, dass der Mindesteinsatz je Spiel 15 Dollar beträgt, zögern wir erst. 15 Dollar für die 20 Sekunden Hoffen und Bangen, in denen die Perle auf dem Kessel tanzt, ist eine Menge.

 

Egal. Wir spielen, gewinnen, verlieren. Es dauert nur kurz, und die Chips fühlen sich nicht mehr wie Geld an. Wie selbstverständlich setzen wir auf Gerade oder Ungerade, 1er-, 2er- oder 4er-Zahlenkombinationen. Die 11 ist schließlich ein Treffer in der Viererreihe und beschert uns eine kleine Säule mit Chips. Ringeding. Büdeledüt. Am Ende nehmen wir einen Gewinn von etwas mehr als 100 Dollar mit. Es hat sich gelohnt. Wie ahnungslos wir sind, zeigt sich, als wir mit unseren Spielchips quer durch den Saal zur Kasse marschieren, um den Gewinn auszahlen zu lassen. Natürlich müssen Spielchips an den Tischen bleiben und zuerst vom Croupier in andere Chips getauscht werden.

 

Der Tag bietet uns unverhofft ein Shopping-Erlebnis. Wir entdecken Ross. In Fernsehspots wirbt die Kette damit, deutlich günstiger als ein Outlet zu sein. Wir prüfen das. Der Laden hat zwar das Ambiente einer Bahnhofshalle, die mit endlosen Kleiderstangen befüllt ist, doch die Preise sind wirklich unschlagbar. Ohne langes Suchen findet Kerstin drei hochwertige Kleider, die ein Zehntel des alten Preises kosten.

 

Spät abends gehen wir noch auf dem Strip spazieren. Immer noch prasseln Eindrücke auf uns herab. Die gesamte Stadt leuchtet und blinkt. Die Straßen sind brechend voll mit Vergnügungssuchenden. An jeder Ecke wollen mir Straßenverkäufer visitenkartengroße Frauenbilder in die Hand drücken. Die Telefonnummer steht daneben. Plakate verkünden, dass eine weitere kleine Kirche eröffnet hat. Eine von vielen Kapellen für Blitz-Trauungen. Gibt es einen letzten Wert, der hier noch etwas bedeutet?

 

Das Gefühl, sich in einer künstlichen Parallelwelt zu bewegen, geht mit uns spazieren. Seltsam nur: Es funktioniert. Aus allen Winkeln der USA, aus der Welt strömen die Menschen in diese Stadt. Die Menschen wollen das alles. Sie wollen vor der Realität in eine Kunstwelt fliehen. Diese Welt ist viel schöner. Hier muss man sich keine Gedanken darüber machen, wovor man flieht. Und ob man selber etwas ändern könnte.

 

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