Vietnam

Vietnams zweites Gesicht

Neue Region, neuer Führer. Mit Ceng in Sapa und Vi an allen anderen Tagen hat uns jeweils ein Vietnamese der lokalen Agentur begleitet. Es waren äußerst zurückgenommene, bescheidene und höflich-sympathische Typen, fast devot. Sie haben uns nur angesprochen, wenn der Moment passte, kamen nie ins Plaudern über sich selbst. Über das Land und Leute haben wir von ihnen viel erfahren, etwas Privates jedoch mit keiner Silbe. Außerhalb des Programms haben sie sich samt Fahrer für uns unsichtbar gemacht.

 

Am Flughafen Hue kommt unser neuer Führer Dan ins Spiel. Für vietnamesische Verhältnisse ist er leicht untersetzt. Dan erzählt gern und viel, gestikuliert dabei, wiederholt es noch einmal und nickt heftig mit dem Kopf. Als wir etwa an der Universität von Hue vorbeifahren, erklärt er uns nichts zum Gebäude, der Bedeutung der Uni, sondern wie er sich als Student hat volllaufen lassen. Auf seinem Smartphone zeigt er uns wenig später ein Bild seiner Freundin. Sie sei eigentlich ganz schön fett. Er nenne sie deshalb "little Bhudda". Eine seiner ersten Aktionen besteht darin, sich bei uns ungefragt zum Mittagessen einzuladen und den Fahrer gleich mit. Beim Essen schließlich erklärt er, was davon gut oder schlecht für die Potenz ist. Dan bringt uns Kartentricks bei und zeigt uns, in welchen Bars es Fassbier gibt. Ständig versucht er, uns in irgendwelche Touri-Läden zu schleppen, bis wir dahinter kommen, dass er dafür bei den Betreibern der Läden immer ein Geschenk abgreift.

 

Er ist aber wirklich engagiert. Das Positive an seiner offenen und redseligen Art ist, dass wir viel über Land und Leute erfahren, über das Verhältnis zu China, zum Sozialismus oder zu den USA. Es wird deutlich, dass die Vietnamesen die Vergangenheit hinter sich lassen wollen und nach vorn blicken. Nur China bleibt ein Problem. Während unseres Aufenthalts streiten sich beide Staaten grade um eine kleine, unbedeutende Inselgruppe. 1.000 Jahre Unterdrückung wirken nach.

 

Dan ist ein - wenn auch extremes - Beispiel des Menschenschlags in Zentralvietnam. In den Straßen sprechen uns die Leute an, fragen, woher wir kommen und lachen auch mal herzhaft. Schon mittags sitzen die Leute draußen, spielen Karten, trinken Bier. Nach wenigen Minuten in der Stadt treffen wir auf einen Vietnamesen mit Verwandten in Deutschland. Er lädt uns auf ein Bier ein, wissend, dass wir am Ende ohnehin bezahlen. Und eine Flasche Wein für seine Familie hätte er auch gern noch mitgenommen, um zu feiern, dass er auf uns getroffen ist. Dafür erhalten wir noch viele Tipps, was man in Hue machen und besser nicht machen sollte.

 

Hue war Jahrhunderte die Hauptstadt des Landes. Die Region ist reich an Palästen, Tempeln und Kaisergräbern, von denen wir mehrere besichtigen. Dabei erleben wir eine Zeitreise, die uns vor Augen führt, wie unterschiedlich unsere Herkunft, unsere Wahrnehmung, unser Denken im Vergleich zu Asien ist. Wir sind Fremde in einem Land, in dem jedes Tier, jede Pflanze, jede Form, jede Zahl eine Bedeutung hat. Am meisten beeindrucken uns der Kaiserpalast mit der verbotenen Stadt sowie die Tempelanlage MySon, beides von der Unesco als Weltkulturerbe ausgezeichnete Stätten. Und beides Stätten, die während des Vietnamkriegs von US-Bomben stark zerstört wurden. In MySon sehen wir noch die Bombentrichter, daneben der Schutthaufen einer Tempelanlage aus dem 4. Jahrhundert. Wir sind erstaunt, dass der Staat erst knapp 50 Jahre nach den ersten Bombardements damit beginnt, die Weltkulturerbestätten wieder aufzubauen. An seinen feudal-religiösen Wurzeln hatte der sozialistische Staat über Jahrzehnte null Interesse. Die Einnahmequelle Tourismus rettet heute dieses Erbe der Menschheit.

 

Am Abend haben wir keinen großen Hunger, doch allein das Erlebnis, die regionale Küche kennenzulernen, reizt uns. Nahe unseres Hotels entdecken wir einen Art offenes Restaurant unter einem Bambusdach, das fernab jeder Touristenstraße direkt am Fluss liegt. Das Problem: Weder das Personal noch ein Gast spricht auch nur eine Silbe Englisch. Wir bekommen eine Speisekarte, auf der genauso gut die Aufstellung der mongolischen Curling-Nationalmannschaft hätte stehen können. So schwer hatten wir es noch nie. Aus Verlegenheit bekommen wir einen Korb mit Wachteleiern hingestellt, den lassen wir aber dankend zurückgehen.

 

Schließlich merken wir, dass mit dem Begriff Chicken und einer flatternden Armbewegung etwas funktionieren könnte - und bestellen. Zuerst kommt eine Hühnersuppe. An zwei Stellen ragt krakenartig Hornhaut heraus. Tatsächlich. Es handelt es sich um die kompletten, verhornten Hühnerkrallen, von denen wenigstens die Spitzen abgeknipst sind. Auch die Innereien wie Herz und Leber schwimmen mit in der Suppe. Ein rundes Teil von der Größe eines Mini-Tortenbodens können wir allerdings nicht identifizieren. Wir vermuten, dass aus den Resten der Reste eine Art Innereien-Küchlein gebacken wurde. Auf jeden Fall wird uns klar, dass wir das Huhn komplett aufgetischt bekommen. Der Hauptgang bestätigt das. Da liegt der gesamte Flattermann zerteilt auf einer Platte, vollständig von Kopf bis Schwanz. Zumindest wissen wir, was wir essen und knabbern tapfer an den Knochen herum. Es schmeckt auch wirklich gut. Eine Spezialität der Region Hue sind Berghühner, die kleiner sind als unsere Hühner mit festem Fleisch und leicht süßlichem Geschmack. Dennoch bleibt beim Essen etwas Unbehagen. Am Ende bieten wir dem Hund, der zwischen den Tischen herumstreunt, etwas von unseren Resten an. Er will's nicht.

 

Zu unseren kleinen Erlebnissen gehört eine Fahrt mit dem Drachenboot zu einer Tempelanlage. Das Boot, mit dem wir drei Stunden auf dem Parfümfluss unterwegs sind, ist das Hausboot einer kleinen Familie. Außerdem haben wir ein tolles Hotel, in dem wir um Frühstück wieder eine Suppe bestellen. Unser Führer Dan hatte uns vorgewarnt, dass die Leute in diesem Landstrich scharf essen. Was soll's, wir bestellen die "Special Hue Noodle Soup". Nach der ersten Nudel, die wir mit den Chopsticks aus der Schale fischen, schauen wir uns wortlos an, und essen tapfer weiter. Zuerst brennen Zunge, Rachen und Lippen, dann tränen die Augen, es bilden sich kleine Schweißperlen im Gesicht, schließlich glühen die Ohren. Schärfer geht's nicht. Very special, euer Frühstück hier.

 

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